Die Perfektionismus-Falle: Wer alles will, kriegt gar nichts!

Majestätisch, riesenhaft, furchteinflößend. Ein Anblick, der einem den Atem stocken lässt. Bis zum Himmel scheint er zu reichen. Ein unüberwindliches Hindernis, lebensfeindlich, der sichere Untergang für jeden, der ihn bezwingen will: Der Lern-Berg.

Aber da musst Du drüber, um die Prüfung zu schaffen. Wie soll das funktionieren?

Gar nicht! Viele Lerner haben große Schwierigkeiten, sich selbst Grenzen zu setzen, was die Menge des Lernstoffs angeht. Wer aber alles lernen will, stellt sich eine Falle, die für den Prüfungserfolg genauso gefährlich ist, wie gar nicht zu lernen: Die Perfektionismus-Falle. Hier erfährst Du, wie Du ihr aus dem Weg gehst!

„Brauchen wir das für die Prüfung?“

Das war mit großem Abstand die häufigste Frage, die mir gestellt wurde, wenn ein Unterrichtsthema beendet war. Egal welches Fach, egal ob Schule oder Universität. Ich antwortete ehrlich, aber nicht wie es die Frager hören wollten: „Alles ist wichtig für die Prüfung“.

Die Enttäuschung im Blick war sichtbar: Erhofft wurde sich eine konkrete „To-Do-Liste“, was zu lernen ist, und was nicht. Jetzt stand man wieder vor dem Problem, selbst überlegen und auswählen zu müssen. Denn „Alles“ kann nicht gelernt werden, oder?

Nein, „Alles“ geht nicht. Denn das würde voraussetzen, dass sich ein Thema klar abgrenzen ließe. Aber alles hängt mit allem zusammen. Je mehr Du Dich in eine Materie einarbeitest, desto mehr Unterpunkte entdeckst Du, Randbereiche weiten sich aus und erzeugen weitere Nachfragen. Das ist aber auch noch interessant, und das muss ich dann aber auch noch lesen. Es ist ein Fass ohne Boden, Du wirst nie auf eine Art „natürliche Grenze“ stoßen!

So begeisternd und inspirierend (und auch notwendig) das für den Forschergeist sein mag, als Lernprinzip eignet sich dieses Verfahren nicht. Im Gegenteil! Das Bedürfnis, allen Dingen ganz auf den Grund zu gehen und möglichst lückenlos zu lernen, ist eine Falle, die auch (und gerade!) die besonders klugen und ehrgeizigen Lerner scheitern lässt. Die Perfektionismus-Falle.

Vorsicht Falle!

Was passiert, wenn Du den Hang zum Perfektionismus – also dem ausgeprägten Bedürfnis, keinerlei Lücken zu lassen – mit einer unendlichen Stoffmenge kombinierst? Richtig, dann stehst Du vor einem solch unüberwindlichen Lern-Berg-Massiv, wie eingangs beschrieben.

Und jetzt gibt es zwei mögliche Reaktionen darauf: Entweder bereits vorher resignieren und es gar nicht versuchen (Prokrastination!) – oder sich ein Lernpensum auferlegen, das ebenfalls unüberwindlich ist.

Beiden ist eines gemeinsam: Garantiertes Scheitern. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Aber wer mit bloßen Händen hundert schwer bewaffnete Berserker angreift, auch. Also alles aussichtslos?

Natürlich nicht. Der Trick ist, den übermächtigen Gegner, den unüberwindlichen Lern-Berg gar nicht entstehen zu lassen. Du stellst ihn Dir nämlich selbst in den Weg. Und das ist eine gute Nachricht, denn, folglich kannst Du das auch verhindern! Das Zauberwort heißt – wie so oft – Zielorientierung.

Was ist Dein Ziel?

Alles ist wichtig – ja, irgendwann, für irgendwen und irgendwie. Aber was ist genau jetzt für DICH, DEIN Lernen und DIESE bevorstehende Prüfung wichtig? Was willst Du erreichen und was musst Du erreichen? Auf welches Ziel arbeitest Du hin?

Das bezieht sich zum Beispiel auf den Inhalt. Schreibst Du eine Klausur über die Weimarer Republik, solltest Du natürlich wissen, was eine Republik eigentlich ausmacht. Insbesondere wenn sie nicht funktioniert. Für eine optimale Punkteausbeute brauchst Du außerdem sowas wie chronologische Eckdaten, den Kontext der Ereignisse (was war vorher, was passierte nachher) und einen Überblick über aktuelle Forschungsdiskussionen. Wie in der griechischen Polis die Demokratie entstand oder was Hindenburgs Leibgericht war dagegen nicht.

Aber auch das beabsichtigte Ergebnis spielt eine Rolle. Ist Dein einziges Ziel, die Klausur irgendwie zu bestehen, brauchst Du „nur“ die Basic Facts, die aber dann bombensicher sitzen müssen. Schreibst Du eine Bachelor-Arbeit, reichen die oben genannten Stichpunkte wiederum nicht aus. Da musst Du weiter in die Tiefe gehen.

Die „Pyramide der Lernwichtigkeit“

Ein nützliches Hilfsmittel zur Vermeidung der Perfektionismusfalle ist die Hierarchisierung der Lerninhalte. Alles ist wichtig, aber nicht alles ist gleich wichtig! Wenn Du also Dein Lernen planst und vor der Frage stehst, welchen Lernstoff eigne ich mir an, überlege, auf welcher Ebene der dreistufigen Pyramide der Lernwichtigkeit sich dieses Thema, dieser Aspekt, dieser Teilbereich befindet:

Tausche dich mit Mitlernern darüber aus, sieh Dir alte Klausuren an, frage Prüfungserfahrene, Lehrer und Dozenten: Schnell entwickelst Du ein Gespür dafür, was in welche Kategorie gehört!

Aber Vorsicht! Auch das beste Werkzeug kann mehr schaden als nützen, wenn es unsachgemäß verwendet wird. Es erleichtert Dir die Arbeit – wenn Du das auch willst. Bevor Du die Pyramide also sinnvoll einsetzen kannst, verdeutliche Dir nochmals klar, dass Du nicht nur nicht alles lernen kannst, sondern auch nicht alles lernen musst! Sonst landen auch Banalitäten in der höchsten Priorität. Entscheidungen erfordern immer Mut, das gilt im Großen wie im Kleinen.

Selbst-Bewusst lernen!

Und Verstehen ist immer besser als auswendig lernen. Das lässt sich neurophysiologisch belegen und erklären, das wird aber jeder auch so bestätigen, wenn er im Archiv seiner Lernerfahrungen kramt. Fehlt das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, etwas zu verstehen, flüchten sich Viele in den scheinbaren Schutz des Auswendiggelernten. Und dann ist die Falle bereits gestellt, denn Du wirst es nicht schaffen, alle Texte und Inhalte fehlerfrei auswendig zu lernen.

Lerne Selbst-Bewusst, indem Du entscheidest, was Du lernst und was nicht. Sonst macht das die Müdigkeit für Dich. Oder die Angst. Traue Dir und Deinem Verstand zu, das zu tun, wofür er da ist, und was er tagtäglich macht: Verstehen! Mach Dich frei vom Gefühl, immer alles lernen zu müssen. Entfalte die Kräfte Deines Gehirns und quäle es nicht!

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